Welche Sprachen sprechen Basels Strassen? – Vom Seminarprojekt zur wissenschaftlichen Publikation.

Geschrieben Sprache begegnet uns überall. Im öffentlichen Raum nehmen wir diese jedoch oft nicht bewusst wahr. Genau darum soll es aber im vorliegenden Beitrag gehen, denn: Welche Sprachen sprechen eigentlich Basels Strassen? Johannes Ritter und Miriam Castro Rodríguez sind dieser Frage im Rahmen ihres Studiums im MSG SuK nachgegangen. Sie berichten von ihren Erfahrungen auf dem Weg dahin und von den Ergebnissen dieser beachtlichen Teamarbeit.

Zu den Personen: 

Miriam Castro Rodríguez lebt in Basel und studierte Französistik und Hispanistik im Bachelor. Sie absolviert derzeit den Masterstudiengang Sprache und Kommunikation an der Universität Basel. 

Johannes Ritter kam fürs Studium nach Basel. Er studierte Deutsche Philologie und Hispanistik und absolviert ebenfalls den Masterstudiengang Sprache und Kommunikation an der Universität Basel.

Das Projekt fand unter der Leitung von Prof. Dr. Sandra Schlumpf-Thurnherr sowie unter Mitarbeit von Sara Carreira (M.A.) und (Dr. des.) Marta Rodríguez García  statt.

Vom Seminarraum auf die Strasse

Im Herbstsemester 2021 besuchten wir, zusammen mit den beiden Doktorandinnen Marta Rodríguez García und Sara Carreira das Forschungsseminar «El paisaje lingüístico como acercamiento al espacio urbano. El caso de Basilea». Auch wenn die Sprache im Seminar angebotsbedingt Spanisch war, sollte es inhaltlich gerade um die Vielfalt in Basels Sprachlandschaft (span. paisaje lingüístico, eng. linguistic landscape) gehen, und wie man sich mit deren Erforschung dem städtischen Raum annähern kann. Die Linguistic Landscape Forschung dokumentiert und analysiert die sichtbaren Zeichen (meist Schrift) im öffentlichen Raum, wie wir sie beispielsweise auf Reklameschildern, Postern und Stickern finden. Sie ist interdisziplinär ausgelegt. Es lassen sich also nicht bloss (rein) linguistische Phänomene untersuchen, sondern auch Fragestellungen aus verwandten Disziplinen beantworten (bspw. aus der Soziologie, Humangeographie und Psychologie), etwa zum Verhältnis von Sprache und Migration oder zu Sprachpolitik und Sprachideologien.

Foto 1

Als Ziel des Forschungsseminares hatten wir uns die Realisierung eines gemeinsamen kleinen Projektes gestellt. Dazu haben wir uns zunächst in das Thema eingelesen. Nachdem wir dann noch hilfreiche Inputs von Gastwissenschaftler:innen – insbesondere vom Soziolinguisten Dr. Adil Moustaoui und der Humangeographin Dr. Esther Schlumpf – erhalten hatten, machten wir uns zügig an unser Forschungsdesign – die Vorbereitung einer systematischen Datenerhebung und -auswertung also. Die Daten sollten in zwei unterschiedlichen Quartieren erhoben werden. Diese mussten genug strukturelle Ähnlichkeiten aufweisen, um vergleichbar zu sein. Wir entschieden uns daher für Gundeldingen, Grossbasel und Matthäus, Kleinbasel. Des Weiteren beschränkten wir uns auf sogenannte bottom-up Zeichen, d.h. wir berücksichtigten keine staatliche Verwendung von Schrift im öffentlichen Raum wie etwa Strassenbeschilderung. Dies aus zwei Gründen: Zum einen ist der Kanton Basel-Stadt einsprachig (Deutsch), so dass davon auszugehen war, dass die staatliche Verwendung von Sprache im Raum Basel-Stadt wenig zur sprachlichen Vielfalt beiträgt; zum anderen konnten wir so die ohnehin schon grosse Anzahl an Zeichen reduzieren (es sollte ja nur ein kleines Projekt sein). Schliesslich legten wir auch einige weitere methodische Kriterien fest und entschieden uns für das Arbeiten mit der Applikation Lingscape von Dr. Christoph Purschke, mit der wir jedes Zeichen fotografieren und annotieren konnten. Und dann ging es auch schon auf die Strasse. 

Durch Forschungsseminar mit anschliessendem Forschungspraktikum sowie der gemeinsamen Publikation konnten wir bei allen wichtigen Schritten eines Forschungsprojektes dabei sein und mitwirken.

Obwohl wir in einer Zeit leben, in der wir unsere Handys überall mittragen und ständig irgendjemand irgendetwas damit fotografiert, hat unsere Arbeit bei der Datenerfassung die Aufmerksamkeit der Menschen auf der Strasse erregt. Als wir die Fotos machten, sagten uns in einem Fall Maler, die eine Fassade strichen, scherzhaft, dass sie uns bereits die Arbeit genommen hätten, indem sie einige Graffiti überdeckt hatten. Obwohl wir uns selbstverständlich jederzeit im legalen Rahmen bewegten, äusserten sich einige Leute besorgt, ob sie wohl auf den Fotos zu sehen sein würden. Einmal kam sogar ein Besitzer aus seinem Laden und fragte, was wir machten. Deshalb entschieden wir von diesem Moment an, in die Geschäfte zu gehen, unser Projekt zu erklären und explizit um Erlaubnis zu bitten, was die Neugier der Menschen weckte und sie so interessiert und freundlich weitere Fragen stellten.

… zurück im Seminarraum

Wir kehrten mit 1591 Fotos zurück (637 aus Grossbasel, 954 aus Kleinbasel). Obwohl wir vorgängig sorgfältig die Annotationskriterien für die Auswertung festgelegt hatten, so zeigten sich uns dennoch eine Vielzahl von Schwierigkeiten am konkreten Datenmaterial. Jedes Foto musste anhand der Kriterien klassifiziert werden. Dies klingt einfacher als es ist. Dies lässt sich an folgendem Beispiel gut veranschaulichen: Für jedes Zeichen versuchten wir, die Sprache(n) zu bestimmen. Betrachten wir dazu die folgenden zwei Fotos aus unserem Korpus.

Foto 3
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Was, wenn mehrere Sprachen für ein und dasselbe Wort bzw. Fragment (Culture, Café Surprise) in Frage kommen? Soll hier die vermeintliche “Intention” der Emisor:innen ermittelt werden? Oder doch lieber die Wahrnehmung seitens der Rezipierenden? Wie kann das eine oder das andere überhaupt herausgefunden werden? 

Bereits die vermeintlich einfache Taxonomie language sorgte also für reichlich Diskussionsstoff. So überrascht es auch nicht, dass wir den Rest des Semesters mit der Datenbesprechung und ‑aufbereitung verbrachten. Schliesslich hatten wird uns dazu entschieden, neben language noch fünf weitere Taxonomien zu gebrauchen, welche die Lingscape App zur Verfügung stellt: form, discourse, dominance, translation (neu: distribution)und layering. Diese lassen sich weiter in Kategorien unterteilen. Zudem benutzten wir einen Kommentarabschnitt, um weitere spezifische Annotationen vorzunehmen, die für uns relevant waren, wie zum Beispiel Wortspiel, Helvetismus, Lehnwort oder COVID. Bei diesem letzteren Fall waren wir uns relativ schnell bewusst, dass die COVID-19-Pandemie einen Platz im Korpus haben würde (siehe als Beispiel Foto unten). Jedoch waren es schlussendlich weniger Zeichen als anfangs erwartet, die sich auf die Pandemie beziehen. Dies mag daran liegen, dass wir nur bottom-up Zeichen (etwa von “privaten” Autor:innen) sammelten und keine top-down (etwa vom Staat, bspw. dem Bundesamt für Gesundheit).

Foto 5

Ein zu offenes Ende und eine Fortsetzung

Pünktlich zu Semesterende hatten wir dann jedes Foto einmal annotiert und in unserer Datenbank auf Lingscape gespeichert. Doch für eine tatsächlichen Auswertung und Analyse waren unsere Daten noch nicht bereit. Von einem kohärenten Korpus konnte noch nicht gesprochen werden, zumal die fortlaufenden Diskussionen eine erneute, gesamthafte Revision aller Daten notwendig machten. Und auch wenn wir die einzelnen Bestandteile des Korpus mittlerweile gut kannten, so konnten wir über die tatsächlichen Kennzahlen und Eigenschaften des Korpus nur mutmassen. So wollten wir nicht aufhören und daher waren wir froh über das Angebot der Seminarleiterin, Prof. Dr. Sandra Schlumpf-Thurnherr, die Arbeit am Projekt im Rahmen eines Forschungspraktikums fortzusetzen.

Foto 6

Das Forschungspraktikum ist wichtiger Bestandteil des Studiengangs Sprache und Kommunikation: Alle Studierenden absolvieren im Laufe ihres Studiums ein Praktikum in einem Forschungsprojekt, um so einen vertieften Einblick in die Forschungspraxis in der Sprachwissenschaft zu erhalten. Dabei sollen sie mit allen wichtigen Komponenten empirischer Forschung vertraut gemacht werden: «von der Themenfindung über die theoretische Einbettung und das Projektdesign via Durchführung und Auswertung bis zum Bericht» (Merkblatt Forschungspraktika SuK). Meist handelt es sich dabei um ein aktuelles Forschungsprojekt der Dozierenden, an dem die Studierenden dann mitarbeiten. Es ist aber auch möglich, ein eigenes kleines Projekt durchzuführen oder – wie in unserem Fall – mit der Unterstützung der Dozierenden ein Projekt aus einem (Forschungs-)Seminar fortzusetzen. Das Besondere ist dabei, dass der konkrete Einblick und die Einbindung in einen laufenden Forschungsprozess eine Perspektive eröffnet, die über die vertiefte, fachliche Auseinandersetzung hinausgeht und sehr motivierend sein kann. Gerade mit Blick auf eine gute Vorbereitung auf die eigene Masterarbeit ist dies von grosser Nützlichkeit.

In unserem Fall begann das Praktikum also damit, die Korpusannotation zu überarbeiten. Dies erwies sich als aufwendiger, aber auch notwendiger Schritt. Nur so konnten wir sicherstellen, ein kohärentes Korpus zu erlangen, über das wir verlässliche Aussagen treffen können. Da wir von Anfang an mit dabei waren, konnten wir die Revision relativ selbständig vornehmen, dennoch schätzen wir den regelmässigen und konstruktiven Austausch mit den ehemaligen Seminarteilnehmerinnen Sara und Marta und unserer Betreuerin Prof. Dr. Schlumpf-Thurnherr. Nachdem die Klassifikation aller Fotos nochmals kontrolliert und gegebenenfalls auch korrigiert wurde, exportierten wir die Daten im Tabellenformat, um die so für verschiedene Programme zur Auswertung vorzubereiten. Für die Zwecke unserer Analysen bot sich dafür Excel an (durch die gewählte Aufbereitung können die Daten beispielsweise auch in einer spezifischen Statistiksoftware wie "R" verarbeitet werden).  Ziel unserer Auswertung war es, das Korpus entlang der von uns gewählten Taxonomien so zu charakterisieren, dass wir konkrete Aussagen über die Sprachlandschaft in den beiden untersuchten Quartieren machen und diese interpretieren konnten. 

Eine wissenschaftliche Publikation

In gemeinsamer Arbeit aller Projektteilnehmer:innen konnten wir eine erste Charakterisierung des Korpus erstellen, und verfassten unter grosser Mithilfe des erfahreneren Teils unseres Teams (Sara Carreira, Marta Rodríguez Garcia und Sandra Schlumpf-Thurnherr) einen wissenschaftlichen Artikel für das Boletín Hispánico Helvético (BHH). Dieser Artikel ist unter dem Titel «Un acercamiento metodológico y empírico al estudio del paisaje lingüístico de Basilea» im Frühling 2023 online erschienen. Die Arbeit daran war sehr intensiv; um die First zur Einreichung des Artikels einzuhalten, galt es in kurzer Zeit Kennzahlen zu berechnen, Tabellen, Diagramme und Karten zu erstellen sowie passendes Material zur Veranschaulichung aus unserem Korpus auszuwählen. Trotzdem war es sehr befriedigend, das Projekt so zu einem konkreten Abschluss zu bringen und unseren Artikel im BHH zu sehen. Ausserdem verfassten wir noch je einzeln einen kurzen Praktikumsbericht, in dem wir eine eigene Teilanalyse zu einem ausgewählten Thema präsentierten. Wir untersuchten hierfür sowohl Zeichen, die wir dem (umwelt-)politischen Diskurs zugeordnet hatten (Johannes), als auch Zeichen, die wir unter dem Kommentar COVID gruppiert hatten (Miriam). So konnten wir also tatsächlich alle wichtigen Schritte empirischer Forschung kennenlernen: von der Themenfindung und dem Projektdesign über die Datenerhebung und ‑auswertung bis hin zur Publikation der Resultate. 

Foto 7

Zum Schluss möchten wir euch natürlich die in der Überschrift gestellte Frage, welche Sprachen die Basler Strassen sprechen, beantworten. Zum untersuchten Raum können wir sagen, dass dieser hochgradig multilingual ist: Wir konnten insgesamt über 30 Sprachen ausmachen, wenn auch Deutsch, Englisch und Schweizerdeutsch deutlich überwiegen. Ausserdem konnten wir feststellen, dass uns Sprache am häufigsten auf Stickern begegnet (insbesondere in Kleinbasel). Die sprachliche Landschaft befindet sich aber auch in ständigem Wandel und so möchten wir euch, liebe Lesende, dazu einladen, eigene Beobachtungen zu machen und das nächste Mal, wenn ihr durch die Strassen geht, eure Gedanken und Blicke bewusst auf die Schriftzeichen im öffentlichen Raum zu richten: Sprache begegnet uns überall; wir sehen, wie Schriften bspw. auf politische Poster und Diskurse antworten und so die Zeichen miteinander im Dialog stehen oder wie Kreativität durch Wortspiele zum Vorschein kommt – kurzum: wie dynamisch und komplex unsere Sprachlandschaft sein kann.