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„Sein und Streit“: Über das Staunen. Eine Reise zum Ursprung der Philosophie
Nicola Gess bei Deutschlandfunk Kultur
Sendung von Etienne Roeder
Am Anfang der Philosophie steht das Staunen. Die Literaturwissenschaftlerin Nicola Gess hat diesem Motor des Denkens eine Poetik gewidmet. Darin zeigt sie, dass am Ursprung der Philosophie auch ein subversives Potential schlummert.
Der Atem des Publikums stockt, wenn im Zirkus die Akrobaten in schwindelerregender Höhe ihre Kunststücke vorführen. Ob Luftakrobaten, Zauberer oder Kuriositäten wie Schlangenmenschen – sie alle versetzen den Betrachter in pures Staunen. Es ist ein Staunen, gepaart mit Bewunderung über die Ausweitung des Möglichen. Nicola Gess erkundet in ihrem Buch über das Staunen dessen Relevanz für die Gegenwartskultur.
So wie Christopher Nolan in seinem Science-Fiction-Epos „Interstellar“ sein Publikum über die Möglichkeit der intergalaktischen Reise staunen lässt, ließen die Automaten oder auch Zauberer im 18. Jahrhundert ihr Publikum wie Kinder staunen. Damals wurde jedoch unterschieden zwischen einem kindlichen und einem erwachsenen Staunen. Die Literaturwissenschaftlerin Nicola Gess erzählt:
„Dieses kindliche Staunen wird dort als ein Staunen aus der Dummheit kritisiert, was aus einer Leichtgläubigkeit her rührt und was mit dem Wunderglauben in Verbindung gebracht wird. Das heißt ein Staunen, was nicht unbedingt wissen will, sondern im Genuss dieses starken Affekts verbleibt. Und dem wird ein kultiviertes Staunen gegenübergestellt. Ein Staunen, das sich mit der Reflexion verbindet und einen kritischen Impuls mit sich bringt.“
Staunen als Motor des Denkens
Gess beschreibt, wie das Staunen in der Herausbildung der philosophischen Ästhetik des 18. Jahrhundert als grundlegende Emotion für die sinnliche Erkenntnis neu interpretiert und aufgewertet wird:
„In dieser Weise wird das Staunen auch für die Philosophie insgesamt relevant, weil es als Brücke fungiert zwischen der aisthesis, also der sinnlichen Wahrnehmung und der cognitio, also unserem Denkvermögen“.
Staunen und Erkenntnis – im Grimmschen Wörterbuch des 18. Jahrhunderts ist der Eintrag über das Staunen schon ganze 40 Zeilen lang und das Wortfeld, mit dem das Staunen beschrieben wird, weitet sich. Staunen, Erstaunen, Verwunderung, Bewunderung.
„Ich denke, dass man die Zeitlichkeit des Staunens, als einen dauernden Moment beschreiben kann, als sein Innehalten im Moment.“
Besser kurz als lang: Staunen als Ansporn zu hinterfragen
Innehalten im Staunen, schockhafte Verwunderung, entgeisterte Starre. Das Staunen und die Zeitlichkeit werden, so beschreibt es Gess, immer wieder sehr ambivalent verstanden und beschrieben.
„Wenn man sich Descartes anschaut, dann ist für ihn genau dieses Innehalten, dieses Verharren im Staunen, das beurteilt er extrem kritisch. Weil er das so interpretiert, dass der Staunende nicht den Schritt zur Erkenntnis tut, also vom Staunen nicht sich anregen lässt, tatsächlich zu verstehen, worüber er staunt, sondern lieber im Staunen verharrt, also das Staunen genießt. Wohingegen das kurzfristige Staunen positiv gedeutet wird von ihm. Ein Staunen, was tatsächlich nur kurz vorkommt, dann aber den Staunenden dazu verleitet, den Sachen näher auf den Grund zu gehen.“
Nicht nur „Wellness-Emotion“: Das subversive Potential des Staunens
Staunen als Analyseinstrument, als Qualitätsmerkmal, als Brücke zwischen aisthesis und cognitio. Zwischen Sinneseindruck und Erkenntnis. Von Kulturkritikern wie Walter Benjamin, Bertold Brecht oder auch Ernst Bloch wird dem Staunen sogar ein revolutionäres Potential zugeschrieben.
„Und das hat damit zu tun, dass das Staunen auch Irritation bedeutet, dass Staunen Reflexion anstößt; dass Staunen dieses Innehalten verursacht, dass man plötzlich rausgerissen wird nicht nur aus dem Alltagstrott, sondern auch aus der Art und Weise, wie man normalerweise über die Dinge nachdenkt.“
Dinge neu sehen. Das Staunen macht den Glaube an politische Utopien erst möglich, so die These. Der Sprung um einhundert Jahre in die Jetzt-Zeit offenbart eine neue Kultur des Staunens. Parallel zu einer alltäglich vorangetriebenen Ökonomie der Aufmerksamkeit, in der scheinbar jeder um den Wow-Effekt buhlt, sieht Gess im Staunen heute noch ein ganz anderes Potenzial:
„Dass es da tatsächlich um eine nachhaltige Irritation geht. Dass das, was ich da lese oder wahrnehme, nicht so leicht integriert werden kann in mein vorheriges Mindset. Dass es einen tatsächlichen Bruch bedeutet mit dem zuvor Bekannten. Dazu gehört auch, dass Staunen keine reine Wellness-Emotion mehr ist, sondern dass sie eben auch mit Negativität verbunden wird. Dass sie unbequem sein kann, dass sie anstrengend sein kann.“
Quelle: Deutschlandfunk Kultur